Samstag, 25. Januar 2020
Deutschland, bleiche Mutter
Deutschland 1980
Regie: Helma Sanders-Brahms
Deutschland
Mögen andere von ihrer Schande sprechen,
ich spreche von der meinen
O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.
Unter den Befleckten
Fällst Du auf.
Von deinen Söhnen der ärmste
Liegt erschlagen.
Als sein Hunger groß war
Haben deine anderen Söhne
Die Hand gegen ihn erhoben.
Das ist ruchbar geworden.
Mit ihren so erhobenen Händen
Erhoben gegen ihren Bruder
Gehen sie jetzt frech vor dir herum
Und lachen in dein Gesicht
Das weiß man.
In Deinem Hause
Wird laut gebrüllt was Lüge ist
Aber die Wahrheit
Muß schweigen.
Ist es so?
[…]
Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen,
lacht man.
Aber wer dich sieht, greift nach dem Messer
Wie beim Anblick einer Räuberin.
O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie haben deine Söhne dich zugerichtet
Daß du unter den Völkern sitzest
Ein Gespött oder eine Furcht!
Bertold Brecht, 1933
Mit diesem – titelgebenden – Gedicht eröffnet Helma Sanders-Brahms den Film – ein „Grund- Akkord“. Gelesen wird es von Hanne Hiob, der Tochter Brechts. Der Film erzählt die Lebensgeschichte der Mutter der Regisseurin und ihrer selbst als Kind im Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegsdeutschland. In einer Art transgenerationalem Dialog folgt die Darstellung der Perspektive des Kindes, dem die Regisseurin zusätzlich in begleitenden Kommentaren ihre Stimme verleiht. Als „Gegenerzählung“ zur üblichen Geschichtsschreibung vertritt der Film eine radikal subjektive und weibliche Perspektive. Mit seinen verdichteten, symbolischen Bildern ist er einerseits Kunstwerk, andererseits über das individuell Autobiographische hinaus ein Spiegel der Zeit, ihrer Einflüsse auf die Protagonisten und die nachfolgende Generation.
In Deutschland wurde der Film bei der Uraufführung von der Kritik verrissen, weltweit im Ausland gefeiert und ausgezeichnet. Erst 2014 wurde auf der Berlinale eine restaurierte vollständige Fassung gezeigt.
„Mein Land ist für mich zunächst einmal meine Mutter und mein Vater, […]. Historiker tun immer so, als könnten sie Geschichte objektiv deuten. Das ist einfach gelogen.“
Helma Sanders-Brahms
AG Psychoanalyse und Film
Ellen Englert, Norma Heeb, Birgit Justl,
Birgit Pechmann, Norbert Spangenberg